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ep:naechstliegender_stand_der_technik

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Nächstliegender Stand der Technik

Das Europäischen Patentamt führt das Konzept des nächstliegenden Stands der Technik im Rahmen des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes systematisch in seinen Prüfungsrichtlinien ein (G‑VII, 5 ff.). Dabei versteht es unter dem nächstliegenden Stand der Technik eine in einer einzigen Quelle offenbarte Kombination von Merkmalen, die den erfolgversprechendsten Ausgangspunkt für eine Entwicklung zur beanspruchten Erfindung darstellt. Die Auswahl erfolgt vorrangig anhand der Ähnlichkeit des Zwecks oder der Wirkung zur Erfindung sowie der Nähe im technischen Gebiet. Maßgeblich ist ferner, dass möglichst geringe strukturelle und funktionelle Änderungen erforderlich sind, um von diesem Stand der Technik zur beanspruchten Erfindung zu gelangen.

Die Bestimmung des nächstliegenden Stands der Technik bildet nach der Herangehensweise des Europäischen Patentamts die erste Phase des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes, der im Europäischen Patentamt als objektiv angelegte und nachvollziehbare Methodik zur Prüfung der erfinderischen Tätigkeit etabliert ist.

Unter dem nächstliegenden Stand der Technik ist die in einer einzigen Quelle offenbarte Kombination von Merkmalen zu verstehen, die den erfolgversprechendsten Ausgangspunkt für eine Entwicklung darstellt, die zur beanspruchten Erfindung führt.1)

Im Interesse einer objektiven und nachvollziehbaren Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit wird der so genannte „Aufgabe-Lösungs-Ansatz“ angewendet.2)

Die Bestimmung des nächstliegenden Stands der Technik wird in der Rechtsprechung unterschiedlich gehandhabt, je nachdem, ob es sich um Entscheidungen des Einheitspatentgerichts (UPC), des Europäischen Patentamts (EPA) oder des Bundesgerichtshofs (BGH) handelt.

Abweichende Herangehensweise des Einheitlichen Patentgerichts und nationaler Gerichte

Im Gegensatz zur etablierten Praxis des EPA, das im Rahmen des Aufgabe-Lösungs-Ansatzes regelmäßig die Bestimmung des „nächstliegenden Stands der Technik“ als erfolgversprechendsten Ausgangspunkt verlangt, verfolgt das Einheitliche Patentgericht (EPG) eine flexiblere Herangehensweise.

In der Entscheidung UPC_CFI_230/2024 (Zentralkammer Paris, Beschluss vom 21. Mai 2025) betont das Gericht, dass es nicht erforderlich sei, den „vielversprechendsten“ Ausgangspunkt zu identifizieren. Vielmehr genüge es, einen oder mehrere „realistische Ausgangspunkte“ aus dem Stand der Technik zu bestimmen – also solche, die für eine Fachperson zum Prioritätszeitpunkt relevant gewesen wären, um ein ähnliches technisches Problem zu lösen.

Diese Herangehensweise steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), der ebenfalls keine schematische Suche nach dem „nächstkommenden“ Stand der Technik fordert, sondern eine nachvollziehbare, zweckorientierte Auswahlentscheidung durch die Fachperson verlangt [→ Nächstliegender Stand der technik].

EPG

Um zu beurteilen, ob eine beanspruchte Erfindung einen erfinderischen Schritt vermissen lässt oder nicht, ist es zunächst erforderlich, einen oder mehrere realistische Ausgangspunkte im Stand der Technik zu bestimmen, die für eine Fachperson von Interesse wären, die am Prioritätsdatum des Klagepatents bestrebt war, ein Produkt oder Verfahren zu entwickeln, das dem im Stand der Technik offenbarten ähnlich ist. Insbesondere sind realistische Ausgangspunkte die Dokumente, die die maßgeblichen Merkmale offenbaren, die im angefochtenen Patent offenbart sind oder die dasselbe oder ein ähnliches zugrunde liegendes Problem behandeln.3)

Um zu beurteilen, ob eine beanspruchte Erfindung für einen Fachmann naheliegend war oder nicht, ist es zunächst notwendig, einen Ausgangspunkt im Stand der Technik zu bestimmen.4)

Es muss eine Begründung dafür geben, warum der Fachmann einen bestimmten Teil des Standes der Technik als realistischen Ausgangspunkt betrachten würde.5)

Ein Ausgangspunkt ist realistisch, wenn seine Lehre für einen Fachmann von Interesse gewesen wäre, der zum Prioritätszeitpunkt des Streitpatents ein ähnliches Produkt oder Verfahren wie das im Stand der Technik offenbarte entwickeln wollte, das somit ein ähnliches zugrunde liegendes Problem wie die beanspruchte Erfindung aufweist.6)

Es kann mehrere realistische Ausgangspunkte geben.7)

Es ist nicht notwendig, einen „vielversprechendsten“ Ausgangspunkt zu identifizieren.8)

BGH

Ob sich dem Fachmann ein bestimmter Stand der Technik als möglicher Ausgangspunkt seiner Bemühungen anbot, bestimmt sich nicht danach, ob es sich hierbei um den nächsten Stand der Technik handelt. Die Einordnung eines bestimmten Ausgangspunkts als - aus nachträglicher Sicht - nächstkommender Stand der Technik ist weder ausreichend noch erforderlich.9)

Die Wahl des Ausgangspunkts bedarf stets einer Rechtfertigung. Diese liegt in der Regel in dem Bemühen des Fachmanns, für einen bestimmten Zweck eine bessere oder andere Lösung zu finden, als sie der Stand der Technik zur Verfügung stellt.10)

Gibt es mehrere Dokumente des Stands der Technik, von denen jede als Ausgangspunkt für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit infrage kommt, so ist die erfinderische Tätigkeit nach ständiger Rechtsprechung gegenüber all diesen Dokumenten zu prüfen, bevor eine die erfinderische Tätigkeit bestätigende Entscheidung getroffen wird.11)

EPA

Die Zuordenbarkeit des zu bestimmenden nächstliegenden Stands der Technik zu demselben Gebiet der Technik wie die beanspruchte Erfindung stellt nur eines von vielen Kriterien zur Feststellung des nächstliegenden Stands der Technik dar.12)

Bei Verneinung der erfinderischen Tätigkeit bedarf es im Prinzip keiner besonderen Begründung für die Vorauswahl von Entgegenhaltungen bedarf, auch wenn dem Fachmann mehrere gangbare Lösungswege zur Verfügung stehen. Vielmehr geht es allein darum, aufzuzeigen, dass sich die Erfindung für den Fachmann in Bezug auf mindestens einen dieser Lösungswege in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt.13)

Der nächstliegende Stand der Technik bezieht sich auf eine in einer einzigen Quelle offenbarte Kombination von Merkmalen, die den vielversprechendsten Ausgangspunkt für die Entwicklung zur beanspruchten Erfindung darstellt. Dabei ist wesentlich, dass der nächstliegende Stand der Technik einen ähnlichen Zweck oder eine ähnliche Wirkung wie die Erfindung verfolgt oder zumindest demselben oder einem eng verwandten technischen Gebiet zuzuordnen ist. In der Regel erfordert er die geringsten strukturellen und funktionellen Änderungen, um zur Erfindung zu gelangen 14).

Es können mehrere gleichwertige Ausgangspunkte existieren, wenn mehrere Lösungswege zur Erfindung führen. In solchen Fällen ist der Aufgabe-Lösungs-Ansatz für alle gleichwertigen Ausgangspunkte durchzuführen. Diese Gleichwertigkeit muss jedoch überzeugend nachgewiesen werden, insbesondere in Einspruchsverfahren, wo nicht beliebig viele Angriffe auf die erfinderische Tätigkeit erlaubt sind 15).

Für eine Zurückweisung oder einen Widerruf genügt es, ausgehend von einem relevanten Stand der Technik nachzuweisen, dass dem Anspruchsgegenstand die erfinderische Tätigkeit fehlt. Es ist nicht entscheidend, welches Dokument der beanspruchten Erfindung „am nächsten“ kommt, sondern ob das gewählte Dokument ein geeigneter Ausgangspunkt ist 16). Argumente, dass ein alternativer Ausgangspunkt vielversprechender sei, entkräften nicht, dass eine Erfindung ausgehend vom gewählten Stand der Technik naheliegend erscheint 17).

siehe auch

Artikel 54 (2) EPÜ → Stand der Technik
Aufgabe-Lösungs-Ansatz

1)
Prüfungsrichtlinien, G.VII.5.1
2)
Prüfungsrichtlinien, G.VII.5
3)
EPG, Zentralkammer Paris, Beschl. v. 21. Januar 2025 – UPC_CFI_311/2023; m.V.a. Lokalkammer, Entscheidung vom 3. Juli 2024, UPC_CFI_230/2023; Artikel 56 EPGÜ
4) , 5) , 7) , 8)
EPG, Zentralkammer Paris, Beschl. v. 21. Mai 2025 – UPC_CFI_230/2024
6)
EPG, Zentralkammer Paris, Beschl. v. 21. Mai 2025 – UPC_CFI_230/2024; m.V.a. Beschluss vom 26. Februar 2024 in UPC_CoA_335/2023, NanoString/10x Genomics, S. 34
9)
BGH, Urteil vom 16. September 2017 - X ZR 109/15, GRUR 2018, 509 Rn. 102 - Spinfrequenz; BGH, Urteil vom 16. Dezember 2008 - X ZR 89/07, BGHZ 179, 168 = GRUR 2009, 382 - Olanzapin; Urteil vom 5. Oktober 2016 - X ZR 78/14, GRUR 2017, 148 Rn. 42 f. ­ Opto-Bauelement; Urteil vom 31. Januar 2017 - X ZR 119/14, GRUR 2017, 498 Rn. 28 - Gestricktes Schuhoberteil
10)
BGH, Urteil vom 16. Dezember 2008 - X ZR 89/07, BGHZ 179, 168 = GRUR 2009, 382 - Olanzapin; Urteil vom 5. Oktober 2016 - X ZR 78/14, GRUR 2017, 148 Rn. 42 f. ­ Opto-Bauelement; Urteil vom 31. Januar 2017 - X ZR 119/14, GRUR 2017, 498 Rn. 28 - Gestricktes Schuhoberteil
11)
siehe T 967/97, Nr. 3.2 der Gründe; T 308/09, Nr. 1.4.1 der Gründe
12)
T 1910/11; m:V.a. die Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, 7. Auflage, 2013, Abschnitt I.D.3
13)
T 1363/10 - 3.3.07; m.V.a. Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Europäischen Patentamts, siebte Auflage, September 2013, I.D.2.1; T 0967/97, Entscheidungsgründe: Punkt 3.2; T 0308/09, Entscheidungsgründe: Punkt 1.4.1
14)
T 606/89
15)
T 320/15
16)
T 967/97; T 558/00; T 21/08; T 308/09; T 1289/09
17)
T 1742/12; T 824/05
ep/naechstliegender_stand_der_technik.txt · Zuletzt geändert: 2025/06/04 07:46 von mfreund