Offenkundige Vorbenutzung

Offenkundige Vorbenutzung durch Vertrieb eines pharmazeutischen Erzeugnisses
Öffentliche Zugänglichkeit
Geheimhaltungsinteresse

Eine offenkundige Vorbenutzung, die öffentliche Benutzung des Erfindungsgegenstandes vor dem Prioritätstag der Erfindung, wird als der Patentfähigkeit des Erfindungsgegenstands entgegenstehender Stand der Technik gewertet (§ 3 (1) S. 2 PatG → Stand der Technik).

Eine Vorbenutzung ist offenkundig, wenn die nicht nur theoretische und nicht nur entfernt liegende Möglichkeit eröffnet ist, dass beliebige Dritte, und damit auch Fachkundige, zuverlässige und ausreichende Kenntnis von der Erfindung erlangen.1)

Bei gewerblicher Entwicklungs- oder Erprobungstätigkeit, bei der ein betriebliches Interesse daran besteht, die dabei entstehenden Kenntnisse nicht nach außen dringen zu lassen, ist im Regelfall und ohne Hinzutreten besonderer Umstände die öffentliche Zugänglichkeit der gewonnenen Kenntnisse zu verneinen. Dies gilt jedenfalls so lange, wie die Kenntnisse nur solchen Personen zugänglich sind, die an dieser Entwicklungs- und Erprobungstätigkeit beteiligt sind.2)

Bei solcher Tätigkeit besteht im Hinblick auf beabsichtigte oder durchgeführte nachfolgende Schutzrechtsanmeldungen, aber gegebenenfalls auch schon im Hinblick auf die Entwicklung von betriebsgeheimem Know-how, ein typischerweise allen Beteiligten ohne weiteres einsichtiges und von ihnen respektiertes Interesse daran, die entstehenden Kenntnisse nicht nach außen dringen zu lassen. Dies gilt auch dann, wenn die Herstellung oder einzelne Herstellungsschritte auf Dritte übertragen werden.3)

In einer solchen Situation kommt es nicht darauf an, ob eine besondere Abrede zur Verschwiegenheit getroffen wird, ob der Dritte selbst kein eigenes Interesse an einer Geheimhaltung hat und ob sein Beitrag zu der Entwicklungstätigkeit eine eigene Mitberechtigung an in Frage kommenden Schutzrechten nicht erwarten lässt.4)

Die offenkundige Vorbenutzung kann als Widerrufsgrund im Rahmen des § 21 I Nr.1 PatG im Einspruchsverfahren und im Nichtigkeitsverfahren vorgebracht werden.

Beruft sich der Einsprechende auf fehlende Patentfähigkeit des patentierten Gegenstandes infolge einer offenkundigen Vorbenutzung, sind bestimmte Angaben in dreierlei Hinsicht erforderlich:5)

Die Einspruchsbegründung muss einen bestimmten Gegenstand der Benutzung bezeichnen, damit überprüft und festgestellt werden kann, ob und gegebenenfalls inwieweit er den patentgemässen Gegenstand vorwegnimmt oder nahelegt.6)

Ferner ist die Angabe bestimmter Umstände der Benutzung dieses Gegenstandes im Sinne des § 3 Abs. 1 PatG erforderlich, damit überprüft und festgestellt werden kann, ob er der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist.7)

Schließlich bedarf es einer nachprüfbaren Angabe dazu, wann der Gegenstand in dieser Weise benutzt worden ist, weil nur dann ermittelt und gegebenenfalls festgestellt werden kann, ob der Gegenstand zum Stand der Technik gehört, von dem aus Neuheit und erfinderische Leistung der patentierten Lehre zu beurteilen sind.8)

Die Veräußerung eines Gegenstands, der die Lehre des Streitpatents vorwegnimmt, ohne Begründung einer Geheimhaltungspflicht führt für sich genommen noch nicht zur Offenkundigkeit. Es muss vielmehr darüber hinaus die nicht nur theoretische Möglichkeit eröffnet sein, dass beliebige Dritte und damit auch Fachkundige zuverlässige und ausreichende Kenntnis von der Erfindung erlangen.9)

Dies kann unmittelbar dadurch geschehen, dass ein unbegrenzter Personenkreis die Vorbenutzungshandlung oder den vorbenutzten Gegenstand wahrnimmt oder wahrnehmen kann. Es kann aber auch genügen, dass einzelne Fachleute, die nicht zur Geheimhaltung verpflichtet sind, entsprechende Kenntnis erlangen. Schließlich kommt in Betracht, dass zwar nur einzelne Personen, die keine Fachleute sind, den vorbenutzten Gegenstand wahrnehmen, ohne zur Geheimhaltung verpflichtet zu sein, jedoch die Möglichkeit besteht, dass sie ihre Kenntnisse weitergeben. Insoweit bedarf es nicht der Feststellung, dass derjenige, der von der Vorbenutzungshandlung Kenntnis erlangt, sich tatsächlich näher mit der Erfindung beschäftigt und die dadurch erlangten Kenntnisse an Dritte weitergegeben hat, vielmehr genügt, dass bei objektiver Würdigung der Umstände des Falles nach der Lebenserfahrung wahrscheinlich ist, dass der Betreffende die Vorbenutzungshandlung zur Kenntnis nimmt, die in ihr verkörperte technische Lehre erkennt und versteht und an Dritte weitergibt.10)

Besteht die Benutzungshandlung darin, dass der betreffende Gegenstand an einen Dritten geliefert wird, kommt es darauf an, ob die Weiterverbreitung der von dem Empfänger der Lieferung erhaltenen Kenntnis an beliebige Dritte nach der Lebenserfahrung nahegelegen hat. Die Antwort auf diese Frage hängt maßgeblich davon ab, ob für den Mitteilungsempfänger eine Pflicht zur Geheimhaltung bestand oder wenigstens nach der Lebenserfahrung anzunehmen war, dass er die Benutzungshandlung, etwa wegen eines eigenen geschäftlichen oder sonstigen Geheimhaltungsinteresses tatsächlich geheimhalten werde. Bei einer solchen Sachlage ist die Offenkundigkeit im Allgemeinen zu verneinen. Ist dagegen eine Geheimhaltungspflicht nicht vereinbart worden und eine Geheimhaltung auch sonst nicht zu erwarten, ist in der Regel davon auszugehen, dass mit der Lieferung die Kenntnis von der Erfindung der Öffentlichkeit preisgegeben und die jedenfalls nicht fernliegende Möglichkeit geschaffen worden ist, dass beliebige Dritte von ihr Kenntnis nehmen können.11)

Für eine offenkundige Vorbenutzung reicht zwar die nicht nur entfernte Möglichkeit aus, dass beliebige Dritte und damit auch Fachkundige zuverlässige, ausreichende Kenntnis von der Erfindung erhalten, und es kann die allgemeine Lebenserfahrung die Annahme rechtfertigen, dass diese Möglichkeit bestanden hat.12)

Die Schlussfolgerung, dass nach der allgemeinen Lebenserfahrung die nicht nur entfernte Möglichkeit bestanden hat, dass beliebige Dritte und damit auch Fachkundige durch eine Vorbenutzung zuverlässige Kenntnis von der Erfindung erhalten, setzt voraus, dass wie etwa bei einem Angebot oder einer Lieferung mindestens ein Kommunikationsakt feststeht, an den ein Erfahrungssatz anknüpfen kann.13)

Für eine offenkundige Vorbenutzung reicht es deshalb nicht aus, dass ein Erfindungsbesitzer bereit gewesen ist, den Gegenstand der Erfindung der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Vielmehr ist es erforderlich, dass eine solche Kundgabe auch tatsächlich erfolgt ist.14)

Besonders darzulegen ist die Offenkundigkeit der Benutzung. Die Benutzung muß es einem Dritten ermöglichen, eine zuverlässige und ausreichende Kenntnis von dem Benutzungsgegenstand zu erhalten. Die Untersuchung des Gegenstands genügt, auch wenn der Gegenstand dabei zerstört werden muß.

Die Vornahme der Untersuchung darf aber nicht sehr unwahrscheinlich sein.

Für die Zugänglichkeit von Informationen genügt, daß die Öffentlichkeit auf sie Zugriff nehmen kann. Darauf, ob ein solcher Zugriff bereits stattgefunden hat oder die Kenntnisse von der Öffentlichkeit genutzt werden, kommt es nicht an.15)

Durch eine Benutzungshandlung wird die ihr zugrundeliegende technische Lehre der Öffentlichkeit nur dann zugänglich, wenn ihr auf diese Weise das für das Erkennen und Verstehen der Lehre erforderliche Wissen vermittelt wird.16)

Ein Angebot, das nicht an die Öffentlichkeit, sondern an einen (potentiellen) Vertragspartner gerichtet ist, stellt nur dann eine offenkundige Vorbenutzung dar, wenn die Weiterverbreitung der dem Angebotsempfänger damit übermittelten Kenntnis an beliebige Dritte nach der Lebenserfahrung nahegelegen hat.17)

Ist das Angebot auf die Herstellung eines erst noch zu entwickelnden Gegenstands gerichtet, kann dies nicht ohne weiteres angenommen werden.18)

Substanziierung eines Einspruchs aufgrund offenkundiger Vorbenutzung

Angaben über die Dauer einer Vorbenutzung, die ein bestimmtes Anfangsdatum (oder Enddatum) nicht enthalten, können nicht von vornherein oder schlechthin als zu wenig konkret zurückgewiesen werden. Es ist vielmehr in jedem Einzelfall zu prüfen, ob der Einspruchsschrift oder einem zulässigerweise bis zum Ablauf der Einspruchsfrist eingereichten Vorbringen Umstände entnommen werden können, die den nachprüfbaren Schluß zulassen, zu einer bestimmten Zeit oder innerhalb eines bestimmten Zeitraums habe eine Benutzung im Sinne des § 3 Abs. 1 PatG stattgefunden.19)

Außerdem müssen gemäß PatG § 59 Abs. 1 Sätze 2 und 4 innerhalb der Einspruchsfrist „Tatsachen im einzelnen“ angegeben werden, die geeignet sind, einen der Tatbestände des PatG § 21 Abs. 1 auszufüllen. Beruft sich der Einsprechende auf mangelnde Patentfähigkeit und bestreitet er in diesem Zusammenhang, daß die Voraussetzungen der PatG § 1 Abs. 1, § 3 Abs. 1 Satz 1 oder § 4 Satz 1 vorgelegen hätten, so muß er einschlägigen, konkreten Stand der Technik nennen, aus dem sich die Patentunfähigkeit der geschützten Lehre ergeben kann. Soll dieser Stand der Technik in einer Anlage verkörpert sein, so muß deren Beschaffenheit in der fristgerechten Einspruchsbegründung so detailliert geschildert werden, daß der Patentinhaber und die Patentabteilung einen deutlichen Eindruck insbesondere von denjenigen konstruktiven Einzelheiten erhalten, die für die Beurteilung der Patentfähigkeit wesentlich sind.20)

Die Schilderung einer angeblich vorbenutzten Sache in der Einspruchsbegründung muß ausdrücklich und in positiver Form erfolgen. Der sich aus dem Gesetz für den Einsprechenden insoweit ergebenden Darlegungslast ist mit Anspielungen auf den Inhalt der patentierten Lehre nicht genügt. Ebensowenig reicht eine (stillschweigende) Bezugnahme auf den vorher wiedergegebenen Wortlaut der Ansprüche des angegriffenen Patents aus (BPatGE 22, 119).

Geheimhaltungsvereinbarungen oder entsprechende Rechtsbeziehungen zwischen dem Patentinhaber und den Adressaten der Vorbenutzung schließen eine offenkundige Vorbenutzung aus.

Normen

§ 3 (1) S. 2 1. Alt PatG → Schriftlicher Stand der Technik
§ 3 (1) S. 2 2. Alt PatG → Mündliche Offenbarungen

§ 3 (1) S. 1 PatG → Neuheit
§ 3 (1) S. 2 PatG → Stand der Technik

§ 3 (2) PatG → Nachveröffentlichte Patentanmeldungen
§ 3 (3) PatG → Sonderregelung für Stoffe und Stoffgemische
§ 3 (4) PatG → Zweite medizinische Indikation

§ 3 (5) Satz 1 Nr. 1 PatG → Neuheitsschonfrist bei offensichtlichem Mißbrauch
§ 3 (5) Satz 2 und 3 PatG → Neuheitsschonfrist für Ausstellungen

siehe auch

Öffentliche Zugänglichkeit

1)
BGH, Urteil vom 12. April 2022 - X ZR 73/20 - Oberflächenbeschichtung; m.V.a. BGH, Urteil vom 21. April 2020 - X ZR 75/18, GRUR 2020, 833 Rn. 28 - Konditionierverfahren; Urteil vom 9. Dezember 2014 - X ZR 6/13, GRUR 2015, 463 Rn. 39 - Presszange
2)
BGH, Urteil vom 12. April 2022 - X ZR 73/20 - Oberflächenbeschichtung; m.V.a. BGH, Urteil vom 14. Mai 2019 - X ZR 93/17, Rn. 34
3)
BGH, Urteil vom 12. April 2022 - X ZR 73/20 - Oberflächenbeschichtung; m.V.a. BGH, Urteil vom 10. November 1998 - X ZR 137/94, Mitt. 1999, 362, juris Rn. 35 - Herzklappenprothese
4)
BGH, Urteil vom 12. April 2022 - X ZR 73/20 - Oberflächenbeschichtung; m.V.a. BGH, Urteil vom 21. April 2020 - X ZR 75/18, GRUR 2020, 833 Rn. 33 f. - Konditionierverfahren
5) , 6) , 7) , 8)
BGH GRUR 97, 770 – „Tabakdose“
9)
BGH, Urteil vom 8. November 2016 - X ZR 116/14 ; m.V.a. BGH, Urteil vom 25. November 1965 - Ia ZR 117/64, GRUR 1966, 484, 486 - Pfennigabsatz; Beschluss vom 5. März 1996 - X ZB 13/92, GRUR 1996, 747, 752 - Lichtbogen-Plasma-Beschichtung; Urteil vom 15. Januar 2013 - X ZR 81/11, GRUR 2013, 367 Rn. 20 - Messelektronik für Coriolisdurchflussmesser
10)
BGH, Urteil vom 8. November 2016 - X ZR 116/14
11)
BGH, Urteil vom 8. November 2016 - X ZR 116/14; m.V.a. BGH, Beschluss vom 5. März 1996 - X ZB 13/92, GRUR 1996, 747, 752 - Lichtbogen-Plasma-Beschichtungssystem
12)
BGH, Urteil vom 9. Dezember 2014 - X ZR 6/13 - Presszange; m.V.a. BGH, Beschluss vom 5. März 1996 - X ZB 13/92, GRUR 1996, 747 - Lichtbogen-Plasma-Beschichtungssyste
13) , 18)
BGH, Urteil vom 9. Dezember 2014 - X ZR 6/13 - Presszange
14)
BGH, Urteil vom 9. Dezember 2014 - X ZR 6/13 - Presszange; m.V.a. BGH, Urteil vom 19. Juni 2001 - X ZR 159/98, GRUR 2001, 1129, 1134 - zipfelfreies Stahlband
15)
Leitsatz 2 aus BGH, Urteil vom 05.06.1997 - X ZR 139/95 - Leiterplattennutzen
16)
Leitsatz 3 aus BGH, Urteil vom 05.06.1997 - X ZR 139/95 - Leiterplattennutzen
17)
BGH, Urteil vom 9. Dezember 2014 - X ZR 6/13 - Presszange; m.V.a. BGH, Urteil vom 15. Januar 2013 - X ZR 81/11, GRUR 2013, 367 Rn. 20 f. - Messelektronik für Coriolisdurchflussmesser; Urteil vom 8. Juli 2008 - X ZR 189/03, GRUR 2008, 885 Rn. 23 - Schalungsteil; Urteil vom 17. Oktober 1958 - I ZR 34/57, GRUR 1959, 178, 179 - Heizpressplatte
19)
BGH 29.04.1997 X ZB 13/96 - Tabakdose
20)
BPatG GRUR 1991, 123 - „Offenkundige Vorbenutzung II“