Der Begriff angewandte Kunst bezeichnet im Urheberrecht Gestaltungen mit funktionalem Nutzen, also Gegenstände, die nicht nur einem ästhetischen, sondern auch einem praktischen Zweck dienen. Typische Beispiele sind Möbel, Textilien, Schmuck, Gebrauchsgegenstände oder – wie im Fall des BGH-Urteils „Birkenstocksandale“ – Schuhe.
Werke der angewandten Kunst fallen nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG [→ Werke der bildenden Künste] ausdrücklich unter die geschützten Werkarten, sofern sie die Anforderungen an eine persönliche geistige Schöpfung erfüllen. Lange Zeit stellte die deutsche Rechtsprechung bei Werken der angewandten Kunst höhere Anforderungen an die Gestaltungshöhe als bei zweckfreier Kunst, da diese Werke neben der künstlerischen Gestaltung auch einem funktionalen Zweck dienen.1)
Mit der Entscheidung Geburtstagszug (2013) hat der Bundesgerichtshof diesen Sondermaßstab aufgegeben. Seither gilt: An Werke der angewandten Kunst sind keine höheren Anforderungen zu stellen als an Werke der zweckfreien Kunst.2) Entscheidend ist allein, ob die Gestaltung eine persönliche geistige Schöpfung erkennen lässt, die Ausdruck freier kreativer Entscheidungen ist.
Diese Angleichung wurde durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) unionsrechtlich bestätigt. Der EuGH hat klargestellt, dass die Anforderungen an den Werkbegriff für alle Werkarten einheitlich gelten – auch für Werke der angewandten Kunst.3) Die ursprüngliche Trennung zwischen „Kunst“ und „Design“ ist urheberrechtlich daher nicht mehr haltbar.
Trotz dieser Gleichstellung verlangt der BGH bei Gebrauchsgegenständen – also typischen Objekten der angewandten Kunst – eine genaue Prüfung, ob die Gestaltung tatsächlich über rein funktionale oder handwerkliche Elemente hinausgeht und ob die verbleibende gestalterische Freiheit künstlerisch genutzt wurde.4) Dies führt in der Praxis dazu, dass Werke der angewandten Kunst besonders sorgfältig auf ihre Originalität geprüft werden, da sie oft stark von technischen oder funktionalen Vorgaben geprägt sind.
Werke der angewandten Kunst unterscheiden sich von Werken der „reinen“ (zweckfreien) Kunst darin, dass sie einem Gebrauchszweck dienen.5)
Für den urheberrechtlichen Schutz eines Werks der angewandten Kunst im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG ist - wie für alle anderen Werkarten auch - eine nicht zu geringe Gestaltungshöhe zu fordern. Das rein handwerkliche Schaffen unter Verwendung formaler Gestaltungselemente ist dem Urheberrechtsschutz nicht zugänglich. Für den Urheberrechtsschutz muss vielmehr ein Grad an Gestaltungshöhe erreicht werden, der Individualität überhaupt erkennen lässt.6)
An den Urheberrechtsschutz von Werken der angewandten Kunst im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 UrhG sind grundsätzlich keine anderen Anforderungen zu stellen als an den Urheberrechtsschutz von Werken der zweckfreien bildenden Kunst oder des literarischen und musikalischen Schaffens. Es genügt daher, dass sie eine Gestaltungshöhe erreichen, die es nach Auffassung der für Kunst empfänglichen und mit Kunstanschauungen einigermaßen vertrauten Kreise rechtfertigt, von einer „künstlerischen“ Leistung zu sprechen. Es ist dagegen nicht erforderlich, dass sie die Durchschnittsgestaltung deutlich überragen.7)
Bei Werken der angewandten Kunst sind nach der neueren Rechtsprechung des Senats zwar keine höheren Anforderungen an die Gestaltungshöhe eines Werks zu stellen als bei Werken der zweckfreien Kunst.8)
Bei Gebrauchsgegenständen, die durch den Gebrauchszweck bedingte Gestaltungsmerkmale aufweisen, ist der Spielraum für eine künstlerische Gestaltung jedoch regelmäßig eingeschränkt. Deshalb stellt sich bei ihnen in besonderem Maße die Frage, ob sie über ihre von der Funktion vorgegebene Form hinaus künstlerisch gestaltet sind und diese Gestaltung eine Gestaltungshöhe erreicht, die Urheberrechtsschutz rechtfertigt.9)
Diese Maßstäbe entsprechen - trotz historisch bedingter Unterschiede in den Begrifflichkeiten - in der Sache dem unionsrechtlichen Begriff des urheberrechtlich geschützten Werks im Sinne der Richtlinie 2001/29/EG.10)
Ob hieran uneingeschränkt festgehalten werden kann, ist Gegenstand von zwei derzeit beim Gerichtshof der Europäischen Union anhängigen Vorabentscheidungsverfahren, mit denen unter anderem geklärt werden soll, ob - erstens - bei Werken der angewandten Kunst zwischen dem geschmacksmusterrechtlichen und dem urheberrechtlichen Schutz ein Regel-Ausnahme-Verhältnis dergestalt besteht, dass bei der urheberrechtlichen Prüfung der Originalität dieser Werke höhere Anforderungen an die freien kreativen Entscheidungen des Schöpfers zu stellen sind als bei anderen Werkarten11), ob - zweitens - bei der urheberrechtlichen Prüfung der Originalität (auch) auf die subjektive Sicht des Schöpfers auf den Schöpfungsprozess abzustellen ist oder (allein) darauf, ob in dem Werk als dem Ergebnis des Schöpfungsprozesses künstlerisches Schaffen objektiven Ausdruck gefunden hat12), ob - drittens - für diese Prüfung auch nach dem für die Beurteilung der Originalität maßgeblichen Zeitpunkt der Entstehung der Gestaltung eingetretene Umstände herangezogen werden können13).14)
Werke der angewandten Kunst sind nicht erst mit Inkrafttreten des Urheberrechtsgesetzes am 1. Januar 1966 (§ 143 Abs. 2 UrhG) nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG, sondern bereits seit dem Inkrafttreten des Gesetzes betreffend das Urhe berrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie vom 9. Januar 1907 (RGBl. I S. 7; nachfolgend KUG [1907]) am 1. Juli 1907 gemäß § 2 KUG [1907] urheberrechtlich geschützt.15)
Dass unter „Werken“ im Sinne des Gesetzes nach § 2 Abs. 2 UrhG nur persönliche geistige Schöpfungen zu verstehen sind, entspricht dem, was schon zur Zeit des Inkrafttretens des Urheberrechtsgesetzes unter dem Begriff „Werke“ verstanden wurde16). Werken der angewandten Kunst kann der Schutz nach dem Urheberrechtsgesetz daher regelmäßig nicht wegen Fehlens des Schutzes nach früherem Recht versagt werden.17)
Die hergebrachte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nach der bei Werken der angewandten Kunst höhere Anforderungen an die Gestaltungshöhe eines Werks zu stellen sind als bei Werken der zweckfreien Kunst18), hat der Senat mit Blick auf die Reform des Geschmacksmusterrechts im Jahr 2004 und die europäische Urheberrechtsentwick lung mit der Entscheidung „Geburtstagszug“19) ausdrücklich aufgegeben. Der Senat hat in dieser Entscheidung festgehalten, dass die Änderung einer lange Zeit geltenden höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht nur Bedeutung für zukünftige Sachverhalte hat, sondern grundsätzlich auch auf einen in der Vergangenheit liegenden, noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt einwirkt. Gerichte sind regelmäßig nicht an eine feststehende Rechtsprechung gebunden, die sich im Licht besserer Erkenntnis als nicht mehr haltbar erweist20).21)
Die Grundsätze der Senatsentscheidung „Geburtstagszug“ sind deshalb nach dem Sinn und Zweck der Übergangsbestimmung des § 129 Abs. 1 Satz 1 UrhG auch auf die Schutzfähigkeit von Werken anzuwenden, die unter Geltung des KUG (1907) und mithin vor dem 1. Januar 1966 geschaffen worden sind. Ein Nebeneinander zweier unterschiedlicher Urheberrechtsordnungen wollte der Gesetzgeber mit der genannten Übergangsbestimmung gerade vermeiden.22)
Der Anspruch auf Zahlung einer (weiteren) angemessenen Vergütung nach § 36 Abs. 1 UrhG aF oder § 32 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 2 UrhG und § 32a Abs. 1 Satz 1 UrhG ist bei der Verwertung eines Werkes der angewandten Kunst, das einem Geschmacksmusterschutz zugänglich ist und die Durchschnittsgestaltung nicht deutlich überragt, nicht für Verwertungshandlungen begründet, die bis zum Inkrafttreten des Geschmacksmusterreformgesetzes vom 12. März 2004 am 1. Juni 2004 vorgenommen worden sind.23)
An den Urheberrechtsschutz von Werken der angewandten Kunst im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 UrhG sind grundsätzlich keine anderen Anforderungen zu stellen als an den Urheberrechtsschutz von Werken der zweckfreien bildenden Kunst oder des literarischen und musikalischen Schaffens. Es genügt daher, dass sie eine Gestaltungshöhe erreichen, die es nach Auffassung der für Kunst empfänglichen und mit Kunstanschauungen einigermaßen vertrauten Kreise rechtfertigt, von einer „künstlerischen“ Leistung zu sprechen. Es ist dagegen nicht erforderlich, dass sie die Durchschnittsgestaltung deutlich überragen.24)
Bei der Beurteilung, ob ein Werk der angewandten Kunst die für einen Urheberrechtsschutz erforderliche Gestaltungshöhe erreicht, ist zu berücksichtigen, dass die ästhetische Wirkung der Gestaltung einen Urheberrechtsschutz nur begründen kann, soweit sie nicht dem Gebrauchszweck geschuldet ist, sondern auf einer künstlerischen Leistung beruht. Darüber hinaus ist zu beachten, dass eine zwar Urheberrechtsschutz begründende, gleichwohl aber geringe Gestaltungshöhe zu einem entsprechend engen Schutzbereich des betreffenden Werkes führt.25)
§ 2 (1) Nr. 4 UrhG → Werke der bildenden Künste
Werke der bildenden Künste einschließlich der Werke der Baukunst und der angewandten Kunst und Entwürfe solcher Werke.
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