Formelle Übertragungskontrolle

Kritik an der formellen Übertragungsrüge

Der Schutz von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG [→ Recht auf Demokratie] erstreckt sich auch auf die Wahrung der Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG [→ Übertragung von Hoheitsrechten] an eine wirksame Übertragung von Hoheitsrechten. Bürgerinnen und Bürger haben zur Sicherung ihrer demokratischen Einflussmöglichkeiten im Prozess der europäischen Integration grundsätzlich ein Recht darauf, dass eine Übertragung von Hoheitsrechten nur in den vom Grundgesetz dafür vorgesehenen Formen der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3, Art. 79 Abs. 2 GG erfolgt (formelle Übertragungskontrolle).1)

Als Grundrecht auf Mitwirkung an der demokratischen Selbstherrschaft des Volkes [→ Recht auf Demokratie] verleiht Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zwar grundsätzlich keine Beschwerdebefugnis gegen Parlamentsbeschlüsse, insbesondere Gesetzesbeschlüsse. Sein Gewährleistungsbereich erfasst jedoch Strukturveränderungen im staatsorganisationsrechtlichen Gefüge, wie sie etwa bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union oder andere supranationale Einrichtungen eintreten können.2)

Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG schützt die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger deshalb vor einer Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 GG, die unter Überschreitung der Grenzen des Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG den wesentlichen Inhalt des Grundsatzes der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG) materiell preisgibt. Dies prüft das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Identitätskontrolle, wie sie Gegenstand der Urteile zum Vertrag von Maastricht3), zum Vertrag von Lissabon4) und zum ESM-Vertrag5) war. Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG ermöglicht ferner bei offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union die Ultra-vires-Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht6).7)

Die auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG [→ Wahlrecht zum deutschen Bundestag] gestützte neuartige formelle Übertragungskontrolle unterscheidet sich prinzipiell von den in der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus dem „Anspruch auf Demokratie“ zur Sicherung der demokratischen Einflussmöglichkeiten der Wahlberechtigten im Prozess der europäischen Integration abgeleiteten Kontrollvorbehalten in Form der Identitätskontrolle und der Ultra-vires-Kontrolle d (I.).8)

Allein in diesem Zusammenhang stand bisher auch die vom Senat wiederholt betonte verfahrensmäßige Komponente der Ultra-vires-Kontrolle (vgl. BVerfGE 134, 366 <397 Rn. 53>; 142, 123 <174 Rn. 82; 193 Rn. 134>; 146, 216 <251 Rn. 50>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2019 - 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14 -, Rn. 93). Danach haben die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger zur Sicherung ihrer demokratischen Einflussmöglichkeit im Prozess der europäischen Integration aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG „grundsätzlich ein Recht darauf, dass eine Verlagerung von Hoheitsrechten nur in den dafür vorgesehenen Formen von Art. 23 Abs. 1 Sätze 2 und 3, Art. 79 Abs. 2 GG geschieht. Der demokratische Entscheidungsprozess, den diese Regelungen neben der gebotenen Bestimmtheit der Übertragung von Hoheitsrechten (…) gewährleisten, wird bei einer eigenmächtigen Kompetenzanmaßung von Organen und sonstigen Stellen der Europäischen Union unterlaufen“ (BVerfGE 134, 366 <397 Rn. 53>). Mit einer „eigenmächtigen Kompetenzanmaßung“ sind danach Konstellationen gemeint, in denen Organe, Einrichtungen oder sonstige Stellen der Europäischen Union mit ihrem Handeln die ihnen durch das Zustimmungsgesetz übertragenen Kompetenzen in offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Weise überschreiten und sich damit vom Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung entfernen. Nicht umfasst waren demgegenüber bisher solche Konstellationen, in denen das deutsche Zustimmungsgesetz nach Art. 23 Abs. 1 GG aus formellen Gründen, etwa wegen der Verfehlung der erforderlichen Zwei-Drittel-Mehrheit, nichtig und eine Übertragung von Hoheitsrechten damit unwirksam wäre. Der Senat spricht nunmehr auch insoweit von Ultra-vires-Akten (vgl. Rn. 97, 99 und 133 des Beschlusses), die es vorbeugend zu verhindern gelte.9)

siehe auch

Recht auf Demokratie

1) , 7)
BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 13. Februar 2020 - 2 BvR 739/17
2)
BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 13. Februar 2020 - 2 BvR 739/17; m.V.a. BVerfGE 129, 124 <169>; 142, 123 <190 Rn. 126>
3)
vgl. BVerfGE 89, 155 ff.
4)
vgl. BVerfGE 123, 267 ff.
5)
vgl. BVerfGE 132, 195 ff.; 135, 317 ff.
6)
vgl. zuletzt BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2019 - 2 BvR 1685/14 u.a. -, Rn. 140 ff.
8) , 9)
Abweichende Meinung der Richterinnen König und Langenfeld sowie des Richters Maidowski zum BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 13. Februar 2020 - 2 BvR 739/17