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verfahrensrecht:vollstreckungsschutz

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 Ist die Einstellung der für den Schuldner lebensbedrohlichen Räumungsvollstreckung mit einer Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gläubigers verbunden, stellt sich diese Frage mit noch größerer Dringlichkeit. In diesem Zusammenhang ist - soweit feststellbar - das Ausmaß der jeweiligen Gefährdung zu würdigen. So kann zu berücksichtigen sein, dass einerseits die mit der Einstellung der Zwangsvollstreckung verbundene Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gläubigers noch nicht akut ist, sondern lediglich aufgrund eines längerfristigen Krankheitsverlaufs prognostiziert wird, andererseits aber die Räumung eine konkrete Lebensgefahr für den Schuldner begründet. In einer solchen Konstellation kommt eine befristete Einstellung der Zwangsvollstreckung unter Auflagen in Betracht, mit denen der Schuldner zu zumutbaren, dem Vollstreckungsgericht nachzuweisenden Maßnahmen angehalten wird, um durch eine Verbesserung seines Gesundheitszustands die mit der Räumung verbundenen Gefahren für Leben oder Gesundheit möglichst auszuschließen.((BGH, Beschluss vom 16. Juni 2016 - I ZB 109/15; m.V.a. BGH, Beschluss vom 13. März 2008 - I ZB 59/07, NJW 2008, 1742 Rn. 11; BGH, WuM 2010, 250 Rn. 11; BGH, Beschluss vom 20. Januar 2011 - I ZB 27/10, NJW-RR 2011, 300 Rn. 7; Beschluss vom 9. Oktober 2013 - I ZB 15/13, NJW 2014, 2288 Rn. 25; BGH, MDR 2016, 417 Rn. 17)) Ist die Einstellung der für den Schuldner lebensbedrohlichen Räumungsvollstreckung mit einer Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gläubigers verbunden, stellt sich diese Frage mit noch größerer Dringlichkeit. In diesem Zusammenhang ist - soweit feststellbar - das Ausmaß der jeweiligen Gefährdung zu würdigen. So kann zu berücksichtigen sein, dass einerseits die mit der Einstellung der Zwangsvollstreckung verbundene Gefahr für Leben oder Gesundheit des Gläubigers noch nicht akut ist, sondern lediglich aufgrund eines längerfristigen Krankheitsverlaufs prognostiziert wird, andererseits aber die Räumung eine konkrete Lebensgefahr für den Schuldner begründet. In einer solchen Konstellation kommt eine befristete Einstellung der Zwangsvollstreckung unter Auflagen in Betracht, mit denen der Schuldner zu zumutbaren, dem Vollstreckungsgericht nachzuweisenden Maßnahmen angehalten wird, um durch eine Verbesserung seines Gesundheitszustands die mit der Räumung verbundenen Gefahren für Leben oder Gesundheit möglichst auszuschließen.((BGH, Beschluss vom 16. Juni 2016 - I ZB 109/15; m.V.a. BGH, Beschluss vom 13. März 2008 - I ZB 59/07, NJW 2008, 1742 Rn. 11; BGH, WuM 2010, 250 Rn. 11; BGH, Beschluss vom 20. Januar 2011 - I ZB 27/10, NJW-RR 2011, 300 Rn. 7; Beschluss vom 9. Oktober 2013 - I ZB 15/13, NJW 2014, 2288 Rn. 25; BGH, MDR 2016, 417 Rn. 17))
 +
 +Eine Gefährdung des unter dem Schutz des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG stehenden Rechts des Schuldners auf Leben und körperliche Unversehrtheit kann im Vollstreckungsschutzverfahren nicht nur bei der konkreten Gefahr eines Suizids gegeben sein. Die Vollstreckung kann auch aus anderen Gründen eine konkrete Gefahr für das Leben des Schuldners begründen oder wegen schwerwiegender gesundheitlicher Risiken eine mit den guten Sitten unvereinbare Härte im
 +Sinne von § 765a Abs. 1 Satz 1 ZPO darstellen. Einzubeziehen sind nicht nur die Gefahren für Leben und Gesundheit des Schuldners während des Räumungsvorgangs, sondern auch die Lebens- und Gesundheitsgefahren im Anschluss an die Zwangsräumung.((BGH, Beschl. v. 1. Juni 2023 - I ZB 108/22; m.V.a. BVerfG, NJW 2022, 2537 [juris Rn. 21]; WM 2022, 1540 [juris Rn. 42 f.]; BGH, Beschluss vom 13. August 2009 - I ZB 11/09, NJW 2009, 3440 [juris Rn. 12]))
 +
 + Das Vollstreckungsgericht hat in seiner Verfahrensgestaltung die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen, damit Verfassungsverletzungen durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen ausgeschlossen werden und der sich aus
 +dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ergebenden Schutzpflicht staatlicher Organe Genüge getan wird.((BGH, Beschl. v. 1. Juni 2023 - I ZB 108/22; m.V.a. BVerfGE 52, 214 [juris Rn. 18]; BVerfG, WM 2022, 1540 [juris Rn. 39]; BVerfG, Beschluss vom 23. März 2023 - 2 BvR 1507/22, juris Rn. 40))
 +
 +Es hat festzustellen, ob aufgrund einer Maßnahme der Zwangsvollstreckung ernsthaft mit einer Gefahr für Leib oder Leben des Schuldners zu rechnen ist; die damit einhergehenden Prognoseentscheidungen
 +hat es mit Tatsachen zu untermauern.((BGH, Beschl. v. 1. Juni 2023 - I ZB 108/22; m.V.a. BVerfG, WM 2022, 1540 [juris Rn. 41]; BVerfG, Beschluss vom 23. März 2023 - 2 BvR 1507/22, juris Rn. 45; BGH, Beschluss vom 30. September 2010 - V ZB 199/09, WuM 2011, 122 [juris Rn. 11]))
 +
 +Macht der Vollstreckungsschuldner für den Fall einer Zwangsräumung substantiiert ihm drohende schwerwiegende Gesundheitsgefahren geltend, haben sich die Tatsacheninstanzen - beim Fehlen eigener Sachkunde - zur Achtung
 +verfassungsrechtlich verbürgter Rechtspositionen wie in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG regelmäßig mittels sachverständiger Hilfe ein genaues und nicht nur an der Oberfläche haftendes Bild davon zu verschaffen, welche gesundheitlichen Folgen im Einzelnen mit einem Umzug verbunden sind, insbesondere welchen Schweregrad zu erwartende Gesundheitsbeeinträchtigungen voraussichtlich erreichen werden und mit welcher Wahrscheinlichkeit dies eintreten kann.((BGH, Beschl. v. 1. Juni 2023 - I ZB 108/22; m.V.a. BVerfG, WM 2022, 1540 [juris Rn. 40]; BVerfG, Beschluss vom 23. März 2023 - 2 BvR 1507/22, juris Rn. 44; zu § 574 Abs. 1 BGB vgl. BGH, Beschluss vom
 +22. Mai 2019 - VIII ZR 180/18, BGHZ 222, 133 [juris Rn. 46]; Beschluss vom 26. Mai 2020 - VIII ZR 64/19, WuM 2020, 504 [juris Rn. 18]))
 +
 +Es gelten die allgemeinen Verfahrensmaximen des Zivilprozesses, insbesondere der Beibringungsgrundsatz, die Beweislast jeder Partei hinsichtlich der für sie günstigen Tatsachen und das Erfordernis einer den §§ 355 ff. ZPO entsprechenden Beweisaufnahme.((BGH, Beschl. v. 1. Juni 2023 - I ZB 108/22; m.V.a. BGH, Beschluss vom 2. Dezember 2010 - V ZB 124/10, NJW-RR 2011, 419 [juris Rn. 11]; Beschluss vom 20. Januar 2011 - I ZB 27/10, NJW-RR 2011, 300 [juris Rn. 11]; Lackmann in Musielak/Voit, ZPO, 20. Aufl., § 765a Rn. 19; BeckOK.ZPO/Ulrici, 48. Edition [Stand 1. März 2023], § 765a Rn. 10; MünchKomm.ZPO/Heßler, 6. Aufl., § 765a Rn. 84; MünchKomm.ZPO/K. Schmidt/Brinkmann, 6. Aufl., § 766 Rn. 45; Zöller/Seibel, ZPO, 34. Aufl., § 765a Rn. 22; Zöller/Herget, 34. Aufl., § 766 Rn. 27; Bendtsen in Kindl/Meller-Hannich, Gesamtes Recht der Zwangsvollstreckung, 4. Aufl., § 765a ZPO Rn. 74; Lehmann-Richter in Schmidt-Futterer, Mietrecht, 15. Aufl., § 765a ZPO Rn. 13))
 +
 + Ist mit der Fortsetzung der Zwangsvollstreckung eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr verbunden, bedeutet dies noch nicht, dass ohne Weiteres Vollstreckungsschutz nach § 765a Abs. 1 Satz 1 ZPO gewährt werden muss. Vielmehr ist eine Einstellung der Zwangsvollstreckung nicht notwendig, wenn der Gefahr durch geeignete Maßnahmen begegnet werden kann. Dies setzt aber voraus, dass die Fachgerichte die Geeignetheit der Maßnahmen sorgfältig geprüft
 +und insbesondere deren Vornahme sichergestellt haben.((BGH, Beschl. v. 1. Juni 2023 - I ZB 108/22; m.V.a. BVerfG, Beschluss vom 26. Januar 2021 - 2 BvR 1786/20 [juris Rn. 28]; BVerfG, WM 2022, 1540 [juris Rn. 44]; BGH, Beschluss vom 21. September 2017 - I ZB 125/16, NJW-RR 2018, 135 [juris Rn. 8] mwN))
 +
 +Erweist sich eine Einstellung der Zwangsvollstreckung als erforderlich, ist diese in der Regel zu befristen und mit Auflagen zu versehen, die das Ziel haben, die Gesundheit des Schuldners wiederherzustellen. Nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz zwischen widerstreitenden Grundrechten kann die staatliche Aufgabe, das Leben des Schuldners zu schützen, regelmäßig nicht auf unbegrenzte Zeit durch ein Vollstreckungsverbot gelöst werden, weil dies mit den Grundrechten des Gläubigers auf Schutz seines Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG) nicht zu vereinbaren wäre. Das Gebot der Befristung und Auflagenerteilung gilt auch dann, wenn die Aussichten auf eine Besserung des Gesundheitszustands des Schuldners gering sind. Im Interesse des Gläubigers ist dem Schuldner zuzumuten, auf die Verbesserung seines Gesundheitszustands hinzuwirken und den Stand seiner Behandlung dem Vollstreckungsgericht nachzuweisen.((BGH, Beschl. v. 1. Juni 2023 - I ZB 108/22; m.V.a. BGH, NJW 2009, 3440 [juris Rn. 8]; BGH, Beschluss vom 14. Januar 2010 - I ZB 34/09, WuM 2010, 250 [juris Rn. 11]; Beschluss vom 9. Oktober 2013 - I ZB 15/13, NJW 2014, 2288
 +[juris Rn. 25]; Beschluss vom 21. Januar 2016 - I ZB 12/15, NJW-RR 2016, 583 [juris Rn. 17]; Beschluss vom 16. Juni 2016 - I ZB 109/15, NJW-RR 2016, 1104 [juris Rn. 13]; Beschluss vom 1. Juni 2017 - I ZB 89/16, NJW-RR 2017, 1420
 +[juris Rn. 24]; BGH, NJW-RR 2018, 135 [juris Rn. 9 bis 14] mwN))
  
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verfahrensrecht/vollstreckungsschutz.1690798597.txt.gz · Zuletzt geändert: 2023/07/31 10:16 von mfreund