Hier werden die Unterschiede zwischen zwei Versionen angezeigt.
— | grundrecht:uebertragung_von_hoheitsrechten [2023/07/25 08:30] (aktuell) – angelegt - Externe Bearbeitung 127.0.0.1 | ||
---|---|---|---|
Zeile 1: | Zeile 1: | ||
+ | ====== Übertragung von Hoheitsrechten ====== | ||
+ | |||
+ | -> [[Formelle Übertragungskontrolle]] | ||
+ | |||
+ | < | ||
+ | **Art. 23 (1) GG** | ||
+ | |||
+ | Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, | ||
+ | </ | ||
+ | |||
+ | Die Frage, wie sich die durch Art. 23 GG legitimierte Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union im Rahmen verfassungsrechtlich gewährleisteter Entscheidungsspielräume und ohne Eingriffe in die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Identität der Verfassung verwirklichen lässt, beschäftigt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts intensiv und seit langer Zeit. Diese Rechtsprechung geht von der – zutreffenden – Erkenntnis aus, dass namentlich die Übertragung von Hoheitsrechten Risiken birgt: Einerseits sind mit der Übertragung von Hoheitsrechten denknotwendig strukturelle Veränderungen im innerstaatlichen Verfassungsraum verbunden, die ihre Grundlage in dem verfassungsrechtlichen Auftrag zur Mitgestaltung der europäischen Integration finden und deshalb zu akzeptieren sind. Andererseits hat die Verfassung Sicherungen gegen die Preisgabe von Verfassungselementen errichtet, die die Identität der grundgesetz-lichen Ordnung ausmachen und die deshalb weder innerstaatlich durch Verfassungsänderung noch als Folge der Integration in europäische oder internationale Strukturen zur Disposition stehen. Den von der Senatsrechtsprechung entwickelten Kontrollvorbehalten der Identitätskontrolle und der Ultra-vires-Kontrolle kommt die Aufgabe zu, diesen Sicherungen praktische Wirksamkeit zu verleihen.((Abweichende Meinung der Richterinnen König und Langenfeld sowie des Richters Maidowski | ||
+ | zum BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 13. Februar 2020 - 2 BvR 739/17)) | ||
+ | |||
+ | Eine zentrale Frage bei der Verwirklichung einer effektiven Kontrolle der Einhaltung verfassungsrechtlicher Grenzen bei der Erfüllung des Verfassungsauftrags zur konstruktiven Mitwirkung an der europäischen Integration ist es, durch wen Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel angestoßen werden können, prüfen zu lassen, ob die Verfassungsorgane ihrer Integrationsverantwortung gerecht geworden sind oder ob sie die dem Integrationsprozess gezogenen Grenzen überschritten haben. Unabhängig von Organstreitverfahren und Verfassungsbeschwerden von Personen, die möglicherweise durch ultra vires oder in identitätsverletzender Weise ergangene Hoheitsakte in ihren Grundrechten spezifisch betroffen sind, kann jeder Wahlberechtigte mit einer auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG [-> [[Wahlrecht zum Deutschen Bundestag]]] gestützten Verfassungsbeschwerde das Bundesverfassungsgericht wegen einer Verletzung des [[Anspruch auf Demokratie|„Anspruchs auf Demokratie“]] anrufen.((Abweichende Meinung der Richterinnen König und Langenfeld sowie des Richters Maidowski | ||
+ | zum BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 13. Februar 2020 - 2 BvR 739/ | ||
+ | |||
+ | Mit Art. 23 Abs. 1 GG wollte der verfassungsändernde Gesetzgeber im Jahre 1992 der europäischen Integration Deutschlands eine neue Grundlage geben und ihre unterschiedlichen Institutionen und Verfahren in einer umfassenden Regelung zusammenführen (vgl. BTDrucks 12/3338, S. 1, 4 ff.; 12/6000, S. 19 ff.). Das hat im Wortlaut von Art. 23 Abs. 1 GG insofern Ausdruck gefunden, als Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG allgemein von der Entwicklung der Europäischen Union zum Zwecke der Verwirklichung eines vereinten Europas spricht, während Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG eine Übertragung von Hoheitsrechten ermöglicht, | ||
+ | |||
+ | |||
+ | Zweck von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG ist es, eine Ausweitung des Integrations-programms der Europäischen Union angesichts des bereits erreichten Umfangs erhöhten verfahrensrechtlichen Anforderungen zu unterwerfen. Der verfassungsändernde Gesetzgeber hat insoweit einen Vorschlag des Rechtsausschusses und des Sonderausschusses Europäische Union des Bundestages aufgegriffen, | ||
+ | |||
+ | |||
+ | Art. 23 Abs. 1 GG geht daher – wie auch sein Absatz 2 – von einem weiten Verständnis des Begriffs der Europäischen Union aus, der grundsätzlich ihre gesamte Organisation und ihr Integrationsprogramm umfasst und unter bestimmten Voraussetzungen auch auf von ihr zu unterscheidende zwischenstaatliche Einrichtungen und internationale Organisationen Anwendung findet (vgl. BVerfGE 131, 152 <199 ff., 217 f.>). Er beansprucht für sämtliche Rechtsakte Geltung, die die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union regeln, näher ausgestalten, | ||
+ | |||
+ | b) Die Übertragung von Hoheitsrechten auf eigenständige zwischenstaatliche Einrichtungen unterfällt Art. 23 Abs. 1 GG, wenn dies einer faktischen Vertragsänderung gleichkommt (vgl. Schorkopf, in: Bonner Kommentar zum GG, Art. 23 Rn. 79 <August 2011>; ders., Staatsrecht der internationalen Beziehungen, | ||
+ | |||
+ | |||
+ | Eine solche Primärrechtsäquivalenz setzt ein Ergänzungs- oder sonstiges besonderes Näheverhältnis zum Integrationsprogramm der Europäischen Union voraus (vgl. Scholz, in: Maunz/ | ||
+ | |||
+ | |||
+ | Für ein Ergänzungs- oder sonstiges besonderes Näheverhältnis kann etwa sprechen, dass die geplante Einrichtung im Primärrecht verankert, das Vorhaben in Vorschriften des Sekundär- oder Tertiärrechts vorgesehen ist oder ein sonstiger qualifizierter inhaltlicher Zusammenhang mit dem Integrationsprogramm der Europäischen Union besteht. Dies gilt auch, wenn das Vorhaben (auch) von Organen der Europäischen Union vorangetrieben wird oder deren Einschaltung in die Verwirklichung des Vorhabens – etwa im Wege der Organleihe – vorgesehen ist. Für ein qualifiziertes Ergänzungs- und Näheverhältnis spricht es darüber hinaus, wenn ein völkerrechtlicher Vertrag ausschließlich zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Union abgeschlossen werden soll, wenn der Zweck des Vorhabens gerade im wechselseitigen Zusammenspiel mit einem der Europäischen Union übertragenen Politikbereich liegt und insbesondere dann, wenn der Weg der völkerrechtlichen Koordination gewählt wird, weil gleichgerichtete Bemühungen um eine Verankerung im Unionsrecht nicht die notwendigen Mehrheiten gefunden haben (vgl. BVerfGE 131, 152 <199 f.> | ||
+ | |||
+ | Soweit Integrationsgesetze und/oder völkerrechtliche Verträge, die in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis zum Integrationsprogramm der Europäischen Union stehen, das Grundgesetz seinem Inhalt nach ändern oder ergänzen oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglichen, | ||
+ | |||
+ | Der Wortlaut von Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG stellt insoweit auf eine Änderung des Grundgesetzes „seinem Inhalt nach“ ab und knüpft damit ersichtlich an die der Rechtsprechung des Senats entnommene Unterscheidung zwischen förmlichen Verfassungsänderungen im Sinne des Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG und materiellen Verfassungsänderungen ohne Änderungen des Verfassungstexts an (vgl. BTDrucks 12/6000, S. 21; BVerfGE 58, 1 <36>; 68, 1 < | ||
+ | |||
+ | Die historische Auslegung unterstreicht dieses Ergebnis. Art. 23 Abs. 1 GG war Teil eines Gesamtpakets, | ||
+ | |||
+ | Der verfassungsändernde Gesetzgeber ist von der Vorstellung ausgegangen, | ||
+ | |||
+ | |||
+ | Dagegen führt die Übertragung neuer Zuständigkeiten auf die Europäische Union oder die Errichtung neuer zwischenstaatlicher Einrichtungen, | ||
+ | |||
+ | |||
+ | Dass die Übertragung von Rechtsprechungsaufgaben auf eine neu zu schaffende zwischenstaatliche Einrichtung eine materielle Verfassungsänderung darstellt, liegt – auch losgelöst von der damit verbundenen, | ||
+ | |||
+ | Art. 23 Abs. 1 GG stellt für die europäische Integration die gegenüber Art. 24 Abs. 1 GG vorrangige, weil speziellere Regelung dar und enthält in Satz 2 einen besonderen Gesetzesvorbehalt.((BVerfG, | ||
+ | |||
+ | Der Vorschrift liegt ein weites Begriffsverständnis der Europäischen Union zugrunde, das auch zwischenstaatliche Einrichtungen jenseits des institutionellen Rahmens der Europäischen Union umfassen kann. Die Übertragung von Hoheitsrechten auf eigenständige zwischenstaatliche Einrichtungen unterfällt Art. 23 Abs. 1 GG, wenn diese in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis zum Integrationsprogramm der Europäischen Union stehen.((BVerfG, | ||
+ | |||
+ | Der Schutz des grundrechtsgleichen Rechts aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG [-> [[Wahlrecht zum Deutschen Bundestag]]] erstreckt sich auch auf die Wahrung der Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG an eine wirksame Übertragung von Hoheitsrechten. Der Gewährleistungsbereich von Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG erfasst Strukturveränderungen im staatsorganisationsrechtlichen Gefüge, wie sie bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union oder andere supranationale Einrichtungen eintreten können.((BVerfG, | ||
+ | |||
+ | Kompetenzen, | ||
+ | |||
+ | Anders als bei Verfassungsänderungen ist Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG bei der Übertragung von Hoheitsrechten stets betroffen. Hoheitsrechte können ohne Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Kompetenzübertragung, | ||
+ | |||
+ | Vor diesem Hintergrund haben die Bürgerinnen und Bürger zur Sicherung ihrer demokratischen Einflussmöglichkeiten im Prozess der europäischen Integration grundsätzlich ein Recht darauf, dass eine Übertragung von Hoheitsrechten nur in den vom Grundgesetz dafür vorgesehenen Formen der Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3, Art. 79 Abs. 2 GG erfolgt.( (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 13. Februar 2020 - 2 BvR 739/17; m.V.a. BVerfGE 134, 366 <397 Rn. 53>; 142, 123 <193 Rn. 134>; 146, 216 <251 Rn. 50>)) | ||
+ | |||
+ | Im Fall des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG kann daher das Fehlen eines zustimmungspflichtigen Bundesgesetzes gerügt werden und im Fall des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG das Fehlen der qualifizierten Mehrheit nach Art. 79 Abs. 2 GG.((BVerfG, | ||
+ | |||
+ | Ein Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag, das unter Verstoß gegen Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2 GG ergangen ist, vermag die Ausübung öffentlicher Gewalt durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union oder eine mit ihr in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis stehende zwischenstaatliche Einrichtung nicht zu legitimieren (a) und verletzt deshalb die Bürgerinnen und Bürger in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 [-> [[Wahlrecht zum Deutschen Bundestag]]], | ||
+ | |||
+ | Werden Hoheitsrechte nicht in dem von der Verfassung vorgesehenen Verfahren übertragen, | ||
+ | |||
+ | Ermächtigt ein Integrationsgesetz Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union beziehungsweise mit dieser in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis stehende zwischenstaatliche Einrichtungen nicht wirksam dazu, Maßnahmen zu erlassen, so verletzt dies die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG.((BVerfG, | ||
+ | |||
+ | Im Anwendungsbereich von Art. 23 Abs. 1 GG schützt Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG die Wahlberechtigten darüber hinaus davor, dass die formellen Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 1 GG für eine Übertragung von Hoheitsrechten, | ||
+ | |||
+ | |||
+ | Damit ist der Kern des in Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG verankerten, | ||
+ | |||
+ | Ermächtigt ein Integrationsgesetz Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union beziehungsweise mit dieser in einem Ergänzungs- oder sonstigen besonderen Näheverhältnis stehende zwischenstaatliche Einrichtungen nicht wirksam dazu, Maßnahmen zu erlassen, so verletzt dies die Bürgerinnen und Bürger Deutschlands in ihrem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG.((BVerfG, | ||
+ | |||
+ | Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG schützt die wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger vor einer Übertragung von Hoheitsrechten gemäß Art. 23 Abs. 1 GG, die unter Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG den wesentlichen Inhalt des Grundsatzes der Volkssouveränität (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG) preisgibt. Dies prüft das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Identitätskontrolle.((BVerfG, | ||
+ | |||
+ | Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG gewährt den Wahlberechtigten ferner gegenüber Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung einen Anspruch darauf, dass diese in Wahrnehmung ihrer Integrationsverantwortung über die Einhaltung des im Zustimmungsgesetz niedergelegten Integrationsprogramms wachen und bei offensichtlichen und strukturell bedeutsamen Kompetenzüberschreitungen von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union aktiv auf die Beachtung der Grenzen des im Zustimmungsgesetz niedergelegten Integrationsprogramms und seine Befolgung hinwirken. Dies prüft das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der [[Ultra-vires-Kontrolle]].((BVerfG, | ||
+ | |||
+ | Bei jeder Übertragung von Hoheitsrechten sind schließlich die sich aus der Verfassungsidentität des Grundgesetzes hierfür ergebenden materiellen Grenzen zu beachten. Auch bei der Übertragung von Hoheitsrechten auf eine in einem Ergänzungs- und sonstigen besonderen Näheverhältnis zur Europäischen Union stehende zwischenstaatliche Einrichtung hat der Integrationsgesetzgeber sicherzustellen, | ||
+ | |||
+ | |||
+ | Mit Blick auf das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG ist unter anderem sicherzustellen, | ||
+ | |||
+ | ===== siehe auch ===== | ||
+ | |||
+ | -> [[Grundrecht: | ||
Partnerprojekte: waidlerwiki.de - chiemgau-wiki.de