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ep:unabhaengigkeit_der_mitglieder_der_kammern

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Unabhängigkeit der Mitglieder der Kammern

Artikel 23 (1) EPÜ

Die Mitglieder der Großen Beschwerdekammer und der Beschwerdekammern werden für einen Zeitraum von fünf Jahren ernannt und können während dieses Zeitraums ihres Amtes nicht enthoben werden, es sei denn, dass schwerwiegende Gründe vorliegen und der Verwaltungsrat auf Vorschlag der Großen Beschwerdekammer einen entsprechenden Beschluss fasst. Unbeschadet des Satzes 1 endet die Amtszeit der Mitglieder der Kammern mit der Entlassung aus dem Dienst auf ihren Antrag oder mit Versetzung in den Ruhestand nach Maßgabe des Statuts der Beamten des Europäischen Patentamts.

Artikel 23 (2) EPÜ

Die Mitglieder der Kammern dürfen nicht der Eingangsstelle, den Prüfungsabteilungen, den Einspruchsabteilungen oder der Rechtsabteilung angehören.

Artikel 23 (3) EPÜ

Die Mitglieder der Kammern sind bei ihren Entscheidungen an Weisungen nicht gebunden und nur diesem Übereinkommen unterworfen [Art. 97 (1) GG → Unabhängigkeit der Richter].

Art. 23 EPÜ garantiert grundsätzlich die Unabhängigkeit der Mitglieder der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer [Art. 97 (1) GG → Unabhängigkeit der Richter] und flankiert diese Garantie durch weitere Gewährleistungen. So dürfen die Mitglieder während ihrer fünfjährigen Amtszeit nicht des Amtes enthoben werden, es sei denn, dass schwerwiegende Gründe vorliegen und der Verwaltungsrat der Europäischen Patentorganisation auf Vorschlag der Großen Beschwerdekammer einen entsprechenden Beschluss fasst (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 EPÜ). Auch sind sie bei ihren Entscheidungen nicht an Weisungen gebunden und nur dem Europäischen Patentübereinkommen unterworfen (Art. 23 Abs. 3 EPÜ).1)

Die Prüfungsrichtlinien werden vom Präsidenten des Europäischen Patentamtes erlassen und entfalten für die Beschwerdekammern keine normative, bindende Wirkung (T 162/82, ABl. EPA 1987, 533, Entscheidungsgründe Punkt 9). Vielmehr sind die Mitglieder der Beschwerdekammern gemäß Artikel 23 (3) EPÜ in Ausübung ihrer richterlichen Befugnisse an Weisungen, somit auch an diese Richtlinien, nicht gebunden und nur dem Europäischen Patentübereinkommen unterworfen.2)

Die Beschwerdekammern sowie die dazugehörigen Geschäftsstellen und Unterstützungsdienste sind in einer separaten Beschwerdekammereinheit unter Leitung des Präsidenten der Beschwerdekammern zusammengefasst worden (Regel 12a Abs. 1 Satz 1 AusfO 2016), der vom Präsidenten des Europäischen Patentamts unabhängig und nur gegenüber dem Verwaltungsrat der Europäischen Patentorganisation rechenschaftspflichtig ist (vgl. Regel 12a AusfO 2016). Die Funktion des Präsidenten der Beschwerdekammern wird vom Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer ausgeübt (Regel 12a Abs. 1 Satz 2 AusfO 2016), der nicht mehr in die Verwaltung des Europäischen Patentamts eingebunden ist.3)

Im Zuge der Strukturreform hat der Präsident des Europäischen Patentamts durch Beschluss vom 14. Februar 2017 seine in Art. 10 Abs. 2 Buchstaben a, e, f und h, Art. 11 Abs. 3 und 5 und Art. 48 Abs. 1 EPÜ verankerten Aufgaben und Befugnisse, soweit diese die Beschwerdekammereinheit und ihre Bediensteten einschließlich der Mitglieder und Vorsitzenden betreffen, mit Wirkung zum 1. März 2017 auf den Präsidenten der Beschwerdekammern übertragen4), so dass nunmehr dieser das Vorschlagsrecht zur Ernennung beziehungsweise das Anhörungsrecht für eine Wiederernennung der Mitglieder und Vorsitzenden der Beschwerdekammern sowie der Mitglieder der Großen Beschwerdekammer gemäß Art. 11 Abs. 3 EPÜ ausübt. Dem Präsidenten der Beschwerdekammern steht jetzt auch die Dienstaufsicht nach Art. 10 Abs. 2 Buchstabe f EPÜ und das Vorschlagsrecht für Disziplinarmaßnahmen aus Art. 10 Abs. 2 Buchstabe h EPÜ in Bezug auf die Mitglieder und Vorsitzenden der Beschwerdekammern und die Mitglieder der Großen Beschwerdekammer zu (Regel 12a Abs. 2 Satz 1 AusfO 2016).5)

Nicht übertragen wurde hingegen das Vorschlags- und Anhörungsrecht des Präsidenten des Europäischen Patentamts in Bezug auf Ernennung und Wiederernennung des Vorsitzenden der Großen Beschwerdekammer6), weil dieser mit dem Amt des Präsidenten der Beschwerdekammern personenidentisch ist. Regel 12a Abs. 1 Satz 3 AusfO 2016 – die gemäß Art. 164 Abs. 1 EPÜ als Bestandteil des Europäischen Patentübereinkommens gilt – weist das Vorschlagsrecht jedoch dem Präsidenten des Europäischen Patentamts zusammen mit dem nach Regel 12c AusfO 2016 gebildeten Beschwerdekammerausschuss zu. Die Übertragung ist zwar nicht durch eine Änderung des Europäischen Patentübereinkommens erfolgt, sondern auf der Grundlage von Art. 10 Abs. 2 Buchstabe i EPÜ durch den Präsidenten des Europäischen Patentamts umgesetzt worden. Diese Übertragung ist in Regel 12a Abs. 2 Satz 1 und Regel 12d Abs. 2 AusfO 2016 allerdings vorausgesetzt und musste vom Verwaltungsrat der Europäischen Patentorganisation nicht mehr genehmigt werden. Eine Rückübertragung dieser Aufgaben, wie sie Art. 4 des Beschlusses vom 14. Februar 2017 als letztes Mittel für den Fall außergewöhnlicher Umstände vorsieht7), dürfte gleichwohl unzulässig sein. Das ergibt sich weniger aus der im Beschluss vom 14. Februar 2017 enthaltenen Selbstbeschränkung, einen solchen Schritt nur in Zusammenarbeit mit dem Verwaltungsrat der Europäischen Patentorganisation gehen zu wollen, denn diese findet im Europäischen Patentübereinkommen selbst keine Grundlage. Eine Rückübertragung verstieße jedoch gegen Regel 12a Abs. 2 Satz 1 und Regel 12d Abs. 2 AusfO 2016.8)

Situation vor der Strukturreform von 2016

Gleichwohl erscheint fraglich, ob die bis zur Strukturreform von 2016 geltenden Regelungen dem Gebot der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit der Mitglieder der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer Rechnung trugen. So war nach Art. 15 EPÜ in Verbindung mit Regel 9 und Regel 12 Abs. 1 AusfO 2007 der für die Beschwerdekammern zuständige Vizepräsident der Generaldirektion 3 zugleich Vorsitzender des Präsidiums der Beschwerdekammern sowie – durch separate Bestellung – auch Vorsitzender der Großen Beschwerdekammer. Als Vizepräsident war er nach Art. 10 Abs. 3 Satz 1 EPÜ in die Verwaltung des Europäischen Patentamts eingebunden, ohne das Europäische Patentamt nach außen zu vertreten. Jedoch traf ihn nach Art. 10 Abs. 2 und 3 EPÜ die Pflicht, den Präsidenten des Europäischen Patentamts zu unterstützen. Er unterlag auch dessen Weisungen. Als Vorsitzender des Präsidiums der Beschwerdekammern war er zudem am Erlass der Verfahrensordnungen der Beschwerdekammern beteiligt (Regel 12 Abs. 3 AusfO 2007). Da er auch Vorsitzender der Großen Beschwerdekammer war, vereinte er in seiner Person sowohl exekutive als auch rechtsprechende Aufgaben. Dies war durch die Ausführungsordnung zum Übereinkommen über die Erteilung europäischer Patente 2007 zwar nicht verpflichtend vorgegeben, jedoch ständige Vollzugspraxis.9)

Der Präsident des Europäischen Patentamts ist nach Art. 10 Abs. 2 Buchstabe h EPÜ ferner ermächtigt, Disziplinarmaßnahmen gegen Mitglieder der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer vorzuschlagen. Die eigentliche Disziplinargewalt über die ernannten Mitglieder der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer steht zwar dem Verwaltungsrat der Europäischen Patentorganisation zu (Art. 11 Abs. 4 EPÜ). Es liegt jedoch nicht fern und ist in der Praxis immer wieder gerügt worden, dass das Vorschlagsrecht des Präsidenten eine psychologische Einflussnahme auf die Mitglieder der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer bewirken kann, die diese veranlassen könnte, eine Verfahrens- oder Sachentscheidung in einem bestimmten Sinne zu treffen. Die Mitglieder der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer, einschließlich der Vorsitzenden, werden zudem auf Vorschlag des Präsidenten des Europäischen Patentamts vom Verwaltungsrat der Europäischen Patentorganisation für die Dauer von fünf Jahren ernannt (Art. 11 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 EPÜ). Die Letztentscheidung obliegt zwar dem Verwaltungsrat; ohne positiven Vorschlag durch den Präsidenten des Europäischen Patentamts ist aber eine Ernennung nicht möglich. Ebenso problematisch ist zudem die Einbeziehung des Präsidenten in die Wiederernennung der Mitglieder der Beschwerdekammern. Eine solche ist nach Ablauf der fünfjährigen Amtszeit gemäß Art. 11 Abs. 3 Satz 2 EPÜ möglich. Sie liegt gemäß Art. 11 Abs. 3 Satz 2 EPÜ zwar in den Händen des Verwaltungsrats; dieser muss den Präsidenten des Europäischen Patentamts jedoch zu dem Vorgang anhören. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass dem Präsidenten des Europäischen Patentamts nach Art. 112 Abs. 1 Buchstabe b EPÜ das Recht zur Divergenzvorlage an die Große Beschwerdekammer zusteht, wenn zwei Beschwerdekammern voneinander abweichende Entscheidungen über eine Rechtsfrage getroffen haben. Nach Art. 20 Abs. 1 Satz 2 VOBK 2007 war er zudem zu unterrichten, wenn eine Beschwerdekammer von einer Auslegung oder Erläuterung des Europäischen Patentübereinkommens abwich, die in einer früheren Entscheidung einer Kammer enthalten war, es sei denn, diese Begründung stand mit einer früheren Entscheidung oder Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer in Einklang (Art. 20 Abs. 1 Satz 1 VOBK 2007).10)

In der Gesamtschau ergaben sich damit eine Reihe von die Unabhängigkeit der Mitglieder der Technischen Beschwerdekammern gefährdenden Gesichtspunkten. Diese Bewertung wird insbesondere durch die kurze Amtszeit der Mitglieder der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer verschärft. Die Dauer der Amtszeit von fünf Jahren (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 EPÜ) liegt am unteren Rand dessen, was auch bei internationalen Gerichten üblich ist. Sie unterschreitet die sechsjährige Amtszeitbegrenzung am Gerichtshof und am Gericht der Europäischen Union (Art. 253 Abs. 1 Halbsatz 2 und Abs. 4 sowie Art. 254 Abs. 2 Sätze 2 und 4 AEUV) und liegt deutlich unter der neunjährigen Amtszeit der Richter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Art. 23 Abs. 1 Satz 1 EMRK). Hinzu kommt, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Amtszeitbeschränkung als verfassungswidrige Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit angesehen werden kann, wenn die Richterinnen und Richter danach in ihr ursprüngliches Amt in der Exekutive zurückkehren11). Dies gilt ebenso für internationale Gerichte12).13)

Diese Defizite dürften durch die zum 1. Juli 2016 in Kraft getretene Strukturreform des Europäischen Patentamts, mit der eine Entflechtung der Verwaltungs- und Rechtsprechungsaufgaben vorgenommen und die Rechtsprechungsfunktion der Beschwerdekammern institutionell weitgehend verselbstständigt worden ist14), im Ergebnis jedenfalls soweit behoben worden sein, dass eine Gesamtschau eine Unterschreitung des Mindestmaßes an wirkungsvollem Rechtsschutz nicht (mehr) trägt.15)

siehe auch

Artikel 21 (1) EPÜ → Beschwerdekammern
Art. 97 (1) GG → Unabhängigkeit der Richter

1) , 3) , 5) , 8) , 9) , 10) , 13)
BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10
2)
st. Rechtsprechung, z.B. Entscheidung T 1063/06 vom 3. Februar 2009, Entscheidungsgründe 3.3
4)
vgl. ABl EPA 2018, A63 <Beschluss des Präsidenten vom 14. Februar 2017>, Art. 1; ABl EPA 2017, A19
6)
vgl. ABl EPA 2018, A63 <Beschluss des Präsidenten vom 14. Februar 2017>, Art. 3 Buchstabe c
7)
vgl. ABl EPA 2018, A63 <Beschluss des Präsidenten vom 14. Februar 2017>, Art. 4; ABl EPA 2017, A19; Irmscher, in: Benkard, Europäisches Patentübereinkommen, 3. Aufl. 2019, Art. 10 Rn. 52
11)
vgl. BVerfGE 148, 69 <121 Rn. 128 f., 126 f. Rn. 140 ff., 129 f. Rn. 148>
12)
vgl. BVerfGE 158, 210 <235 f. Rn. 60> - Einheitliches Patentgericht II – eA
14)
vgl. ABl EPA 2018, Zusatzpublikation 1, S. 1 ff.
15)
BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10; m.V.a. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 08. November 2022 - 2 BvR 2480/10
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